Bei Recherchen zur Entwicklung des Abschnitts der Bundesautobahn A 4 zwischen den Anschlussstellen Eisenach-West und Kirchheim wurde ein Erlebnisbericht entdeckt, der die Ereignisse am 9. November 1989 und den darauf folgenden Tagen aus der Sicht eines Verantwortlichen des ehemaligen Autobahnamtes Frankfurt schildert. Die Redaktion fand diese authentische Niederschrift so bedeutsam, dass sie sich um das Recht für eine Zweitveröffentlichung bemühte. Leider gelang es nicht, den Autor ausfindig zu machen und mit ihm persönlich zu sprechen. Wir danken an dieser Stelle dem VSVI Thüringen und Hessen Mobil - Straßen- und Verkehrsmanagement für die Unterstützung bei der Suche nach Herrn Ruhl.
Gerhard Ruhl, Alsfeld Autobahnbau in Thüringen - ein persönliches ResümeeDas VSVI-Vorstandsmitglied Herr Dipl.-Ing. v. d. Osten hat mich, am Ende meiner beruflichen Tätigkeit im Autobahnamt des Freistaates Thüringen, um einen Rückblick gebeten. Dieser Aufforderung komme ich gerne nach. Erwarten Sie aber jetzt nicht von mir irgendeine Bilanz von Planungen, Investitionen, Autobahnfertigstellungsterminen, Ereignissen aus Betrieb und Verkehr u.a.m. Hierzu gibt es in den einschlägigen Fachorganen genügend Nachschlagemöglichkeiten. Ich möchte mich auf ein Thema beschränken, das besonders eng mit meiner Person verbunden ist. Geschichtliches vor der Wendezeit, Wendezeit selbst und Anfang der gemeinsamen Arbeit "Rund um den Thüringer Zipfel". Als Leiter der Außenstelle Alsfeld des Autobahnamtes Frankfurt umfasste mein Hoheitsgebiet auch die Bereiche rund um den Thüringer Zipfel. Es gab zwei unmittelbare Grenzstellen an der A 4. Von Westen kommend an der Anschlussstelle Wildeck/Obersuhl über ein ca. 2,0 km langes totliegendes Autobahnteilstück bis zur eigentlichen Grenze, dem Todesstreifen im Bereich der alten Anschlussstelle Gerstungen (DDR). Hier stand seit Jahren auf altehrwürdigem Kopfsteinpflaster ein amerikanischer Panzer mit Besatzung rund um die Uhr - allerdings ohne nennenswerte Aufgabe. Eine mehr symbolische Maßnahme - Weststrategie. Ich kann mich erinnern, dass Kinder der umliegenden Ortschaften mit den Soldaten spielten, um sich so die Zeit zu vertreiben. Das tote Autobahnstück von Wildeck bis zum besagten Panzer lag ohne Veränderung, wie Ende der 30er Jahre gebaut, mit Fahrbahnplatten aus Beton mit feinem Rasengrün aus den Fugen schauend, hellem schönen Granitpflaster vor und hinter den Unterführungsbauwerken - also in den Setzungsbereichen, Holzgeländer auf den Brücken, Holzschilder und auch Holzschutzplanken. Zur Erhaltung dieser Altertümer hatte ich die AM Bad Hersfeld gebeten, verfaulte Holzbalken naturgetreu zu ersetzen und andere Teile auf dem Bauzustand von 1940 zu halten. Filmgesellschaften drehten im Westen DDR-Filme. Von den Filmemachern wurde der Wunsch an das Autobahnamt Frankfurt herangetragen, doch die alte Autobahn wie oben geschildert, für Außenaufnahmen zur Verfügung zu stellen. Eine alte artgerechte Autobahn ohne Verkehr - auch die Landwirtschaft durfte die Autobahn nicht befahren, war im gesamten deutschen Grenzbereich nicht vorhanden. Auf der anderen Grenzseite der A 4 von Wommen kommend in westliche Richtung tat sich das gleiche Bild auf, allerdings mit dem Unterschied, dass die alte Autobahn - ebenfalls etwa 2 km toter Fahrbahn - von den Landwirten genutzt wurde. Außerdem stand da auch kein Panzer; warum nicht, ist unerklärlich. Die Talbrücke Wommen war halb fertig gestellt, die Widerlager für die westliche andere Hälfte begonnen. Die Brückenhälfte Ost war befahrbar. Beide Autobahngrenzstellen mit den beiden toten Autobahnabschnitten davor gaben einen vorbehaltlosen Ausblick in die DDR-Dörfchen Neustadt, Sallmannhausen, Lauchröden u.a.m, nur einige hundert Meter von der Staatsgrenze entfernt. Sehr häufig musste ich meine Arbeit unterbrechen und Besuchergruppen - nicht nur aus der BRD sondern auch aus dem westeuropäischen Ausland - zu diesen exponierten Grenzstellen begleiten. Ich erinnere mich auch an Besucher aus China und Japan. Außer Erläuterungen über Standortbestimmungen wurde kaum ein Wort geredet. Schweigendes Insichkehren war allenthalben zu beobachten. Im Bereich der Ortschaft Wommen (BRD) nahe der B 400 waren auf einem Lagerplatz nummerierte Sandsteinplatten/Verblendsteinmauerwerk für die andere Hälfte der Wommener Talbrücke gelagert, die nach und nach von westlichen baulustigen Bürgern entwendet wurden. Man kann auch sagen, die Steine verdunsteten so langsam mit der Zeit. Das Landesamt für Straßenbau in Wiesbaden ordnete an, das muss so Mitte der 80er Jahre gewesen sein, den Lageplatz diebstahlsicher einzuzäunen. Ich nehme es einmal vornweg, das restliche Verblendmauerwerk befindet sich (neu vermauert), nach Sandstrahlreinigung der 50 Jahre alten Steine, in der 2. Hälfte der Wommener Talbrücke. Von der AS Wildeck/Obersuhl bis zum Ostwiderlager der Wommener Talbrücke wurde die B 400 in den 70er Jahren als sogenannte Ersatzautobahn um den Thüringer Zipfel herumgebaut. Die Autobahnmeisterei Bad Hersfeld mit Winterdienststützpunkt Herleshausen - auch ein Unikat der Grenze - hatte die Aufgabe, diese B 400 aus autobahnrelevanter Sicht zu betreuen, d.h. den 24-Stunden-Einsatz sicher zu stellen. Diese B 400 diente zur Verbindung der abgeschnittenen Autobahnen A 4 als der Transitstrecke und war für den Ost-West-Verkehr von ganz besonderer Bedeutung. Bis Mitte der 80er Jahre waren diese geschlossenen Autobahngrenzübergangsstellen Normalität. Unruhig wurde es allerdings, als die neue Werratalbrücke, die neue GÜST Wartha bei Eisenach und der Autobahnverbindung auf freier Stre-cke östlich der hessischen Grenzübergangsstelle Herleshausen für den Transitverkehr frei gegeben werden sollten. Der bauliche Ablauf auf freier Strecke wurde allerdings von Osten kommend sehr spannend gemacht. Wir hatten immer das Ge-fühl, auf den Baugeräten sitzen keine Fachleute, sondern Grenzpolizisten. Selbst der Mann mit der Schaufel zählte dazu. Trotz dieser widrigen Umstände klappte die bauliche Zusammenführung auf beiden Autobahnseiten, ohne Worte und ohne Zeichensprache, so dass an einem ruhigen Herbst-Samstag-Morgen 1984 pünktlich 4.00 Uhr die Öffnung für den Verkehr vollzogen wurde. Bis dahin lief der Grenzverkehr über eine kleine Landstraße. Auf westlichem Gebiet wurde eine eigens dafür installierte Ampel auf grün gestellt - sekundengenau 4.00 Uhr konnte der Verkehr über die neue Autobahn (z. Zt. Felseinschnitt) und die neue Werrabrücke rollen. Ich habe dieses Spektakel live miterlebt. Das Zeremoniell war zwischen den Verkehrsministern von Berlin - Ost und Bonn abgestimmt. Zur Vorbereitung des Winterdienstes an der Grenze gab es eine Beratung mit dem Bundesgrenzschutz aus Kassel. Wie soll der Winterdienst durchgeführt werden? Räumen? Streuen? Wer macht was, was macht Ost, was macht West? Fragen über Fragen. Ein positives Ergebnis dieser Beratung gab es nicht, allerdings sollte der Versuch unternommen werden, vor Ort Klarheit zu schaffen. Nach dem ersten Schneefall - ich kann mich noch gut erinnern - haben die Kollegen auf den Fahrzeugen von den Begegnungen mit ihren ostdeutschen Kollegen berichtet wie o. g. Fragen zu klären sind. Auf einfachste Art und Weise wurde das vermeintliche Problem mittels Handzeichen, Zuruf und sogar Austausch von Handzetteln (strengstens verboten) völlig zufriedenstellend gelöst. Dass im Herbst 1989 in der DDR ein politisches Gewitter auf-zog, war allenthalben bekannt. Es kam der 09.11.1989. Um 2.00 Uhr nachts läutete mich mein Amtsleiter aus tiefem Schlaf. Er bat mich, doch sofort an den Grenzübergang AS Gerstungen zu fahren und die Lage zu peilen, bereits alle Vorkehrungen zu treffen, den Grenzübergang zum Westen hin baulich zu öffnen. Alles ging sehr schnell, ich habe meinen Autobahnmeister Lehn zur Grenze mitgenommen, beide mit Gänsehaut umherlaufend. Wir hatten bis zum Mittag des 10.11.1989 einen Plan aufgestellt, wie und mit welchen Mitteln eine solche Grenzöffnung mit all den Gefahren (Minen, Starkstrom u. a. m.) operativ und sehr schnell zu schaffen wäre. Eine mit dem Autobahnamt Frankfurt unter Vertrag stehende Baufirma mit ähnlichem Leistungsumfang wurde gebeten, ein entsprechendes Angebot abzugeben. Auch diese Leute waren schneller als im Normalfall vor Ort -ebenfalls mit Gänsehaut umherlaufend. Ich habe zögerlich - nach Freischneiden des Buschwerkes Blickkontakt mit einem Grenzpolizisten von Drüben aufgenommen und diesen gebeten, dass man mit einander reden müsse. Der Widerstand war zunächst unüberwindbar, da es vermutlich keine offizielle DDR-Stelle gab, die eine solche Vorgehensweise - nämlich Öffnung der Grenze nach Westen duldete. Es hat dann doch ein bis zwei Tage gedauert, bis etwas Verständnis auf DDR-Seite zu spüren war. Wie sah die eigentliche Grenze überhaupt aus? Nach dem Betonpfosten: Halt, DDR Grenze, Sichtstreifen, Starkstromstacheldrahtzaun, Todesstreifen, umgepflügt mit Minen überfüllt, durchgehende Panzersperre mit tiefem Graben, in Westrichtung, sehr steil mit Betonmauer, unmittelbar davor kreuzverschweisste Doppel-T-Träger, danach noch ein Zaun mit Sicherheitsstreifen. Da war Blickkontakt schon schwierig, aber es gab von beiden Seiten auch Feldstecher! Nachdem wie oben erwähnt, mit Todesangst einige Hecken und Sträucher vorsichtig beseitigt waren, konnte mit den Grenzern gesprochen werden. Ich denke so am 2. und 3. Tag nach dem 09.11.89 konnte sich die erste Raupe gen Osten bewegen und den Weg nach "Drüben" freischieben. Ohne die dann schon gewährte Hilfe der Ostgrenzer wäre ein Durchkommen durch hoch explosionsgeladene Einrichtungen nicht gelungen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Ostgrenzer keine offizielle Anordnung von Verhaltensregeln. Das Eis brach, als der erste Autobahnkollege des Ostens, Herr Autobahnmeister Kruse, AM Eisenach, der schwerbewaffnete und auf dem Rücksitz befindliche diensthabende Ostgrenzer- Name vergessen - und mich nach Eisenach in das Hauptquartier der zuständigen übergeordneten DDR-Stelle zur Beratung fuhr. Nach Überwindung einiger Schlagbäume, es wurde der Besuch des Westens jeweils telefonisch angekündigt; es ging durch dunkle Flure bis in ein stark verräuchertes Büro. Herr Kruse hat das Gespräch geführt und mich vorgestellt. Die Grenzuniform der DDR hat mich stark beeindruckt, das Gespräch über die praktische Grenzöffnung in Gerstungen und Wommen war sehr kalt und ohne nennenswertes Ergebnis. Meine Fassung habe ich nicht verloren; auch die scharf geladene Pistole hat mich nicht berührt. Insgesamt war die Fahrt von Hessen nach Eisenach einerseits für mich in die totale Ungewissheit und andererseits auch in einen totalen Frieden - "Soeben fallen aus meiner Sicht die Grenzen der geteilten Welt zumindest am Thüringer Zipfel". Dies ging immer wieder in mir vor. In der Zwischenzeit wurde an dem Grenzpunkt Gerstungen feste gebaggert, geladen, geschoben. Frostschutz eingebaut und asphaltiert. Die Baustelleneinrichtung wurde auf DDR-Gebiet aus symbolischen Gründen errichtet. Einzelheiten von Verbrüderungsorgien möchte ich hier einsparen, da alle Medien eindrucksvoll berichteten. Die DDR-Bürger konnten aber erst mit ihren vielen Trabis, Wartburgs am 12.11.1989 einreisen, nachdem eine provisorische Grenzübergangsstelle - Passstelle Ost - eingerichtet war. Ich selbst bekam in meinen Pass einen DDR-Stempel, damit meine Kollegen und ich auf DDR-Seite wechseln konnten. In diesen Tagen habe ich auch das erste Mal die sieben Pfeiler der Richelsdorfer Talbrücke gesehen. Niemand aus dem Westen kannte dieses Bauwerk - den Bauzustand (nur ca. 100 m von dem Panzerplatz entfernt). Nach den aufregendsten und spannendsten Tagen meines Berufslebens - ja, meines Lebens, haben wir nachgedacht, wie und wie schnell der Thüringer Zipfel der A 4 zu öffnen ist. Zwischen den Grenzen sind es immerhin 7 km Baustrecke. Ende November 89 wurden die ersten Gespräche mit den zuständigen DDR-Kollegen Heinz Wernicke, Fritz Milde und Wolfgang Heine geführt. Es gab nur eine Richtungsfahrbahn, der Erdkörper und die Brücken waren vollständig fertig gestellt. Eine Spur war mit Mutterboden aufgefüllt, die andere war frei aber in weiten Teilen unbefahrbar. Betonplatten waren z. T. entfernt. Im sogenannten Mittelstreifen stand ein Stacheldrahtzaun. In den Wochen vor Weihnachten wurde mit den örtlichen Aufnahmen begonnen, das LV wurde aufgestellt. Vorbereitet wurde eine RiFB der A 4 im Gegenverkehr. Als es um die 50 Jahre alten Brücken ging, (17 an der Zahl) Planunterlagen, Tragfähigkeit, Querschnitte u. a. Dinge, sagte auf Anfrage der Kollege Wernicke: "Da gibt es bei mir einen Brückenspezialsten namens Heinz Müller, der weiss alles was den Brückenbau betrifft. Kollege Müller sagt heute: "Ich kannte keine dieser Brücken, da ich in den DDR-Zeiten nicht berechtigt war, in solche hochbrisanten Grenzabschnitte vorzudringen." Der Kontakt zum Baustab Süd in Erfurt war hervorragend, gegenseitige Besuche waren an der Tagesordnung. Es lief alles wie am Schnürchen, das Geld kam allerdings aus dem Westen. Was nicht so richtig klappte, war das Telefonieren. In der Lossiusstraße 2 in Erfurt stand einer von wenigen Telefonapparaten mit denen man in den Westen telefonieren konnte, es war aber ausreichend, um die Termine abzusprechen. Die Bauarbeiten für den I. Bautakt begannen nach der Bauvorbereitungs- und Ausschreibungsphase im März 1990 und waren in einer Rekordzeit Anfang Juni fertig gestellt, nach Ausstattung konnte die Eröffnung erfolgen. Am Mittwoch, dem 13.06.1990 wurde unter großer Beteiligung von Politik aus West und Ost sowie der Bevölkerung der Thüringer Zipfel für den Verkehr frei gegeben (sh. Einladung). Dass noch drei Bauphasen folgten, sei nur der Vollständigkeit willen erwähnt. Auch die zwei großen Talbrücken bei Gerstungen und bei Wommen wurden im 3. Bauabschnitt (27.06.95) fertiggestellt. Nachzutragen ist, dass das Provisorium AS Wommen heute noch Bestand hat. Am Ostwiderlager wurde der letzte Bogen zur Durchfahrt nach Osten genutzt um den Verkehrsknoten kreuzungsfrei zu machen. Die notwendige Befreiung von der Planfeststellung konnte nur mit großer Mühe erreicht werden und es hat einige Diskussions-abende in Wommen bedurft um die Betroffenen zu überzeugen. Lärmschutz war notwendig. Sicherlich können auch andere Ereignisse dieser bewegenden Zeiten um den Jahreswechsel 1989/1990 für andere Beteiligte wichtiger erscheinen als die von mir geschilderten. Ich denke aber, dass eine grobe Nachbetrachtung gerade aus meiner Sicht dem Leser dieser Zeilen genauso die berühmte Gänsehaut über-kommen lässt. Was meine Person und mein Wirkungskreis in Thüringen betrifft ist leicht nachvollziehbar und klar. Die fast 11 Jahre möchte ich nicht missen; ich habe liebe, liebenswerte und ehrliche Thüringer kennen und schätzen gelernt. Mit den Medien habe ich ein vertrauensvolles Klima aufgebaut, was mir manchen Ärger mit den Vorgesetzten einbrachte. Da ist Fingerspitzengefühl gefordert, denn die politischen Erfolge - wenn man das Ganze einseitig sieht, sind für die Lorbeeren verantwortlich, da die Magnetfunktion der Autobahn auch ein wichtiges Infrastrukturelement darstellt. Ich habe mir auch nichts daraus gemacht, wenn man mich als »kleinen wieseligen, grauhaarigen Westbeamten" oder Autobahnguru oder gar Autobahn-Haudegen in Zeitungsinterviews betitulierte. Die Autobahnen sind zum Fahren da, nicht zum Stehen im Stau. Wenige Wochen nach dem Ausscheiden sind Namen Schall und Rauch. Das möge auch so bleiben. Die Genugtuung bleibt aber subjektiv mit der Tatsache erhalten, am großen Werk der Autobahnen in Thüringen nach der Wende ein klein wenig mit beigetragen zu haben. H. Schneider, Redaktion Naumburg (Saale), 7/2016
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